'Wir kommen über Nacht'

aktuell, 13.02.2023

Jahrzehnte mit Fokus auf Gewinnmaximierung statt Erdbebenschutz: Die Türkei steht vor ungeahnten Herausforderungen.

„Wir kommen über Nacht, überraschend.“ Das sind die drohenden Worte des türkischen Präsidenten Erdogan in Richtung Griechenland gewesen.

Das muss man sich einmal vor Augen halten: Es sind die Worte eines Mannes, der aktuell selbst auf Hilfe jeglicher Art angewiesen ist. Die verheerenden Folgen der Erdbeben betreffen 20 Millionen Menschen in der Türkei, es gibt eine sechsstellige Zahl an Verletzten und zehntausende Tote.

Seit über 20 Jahre bestimmt Erdogan die Geschicke des Landes. Und wie auch die Katastrophe vom 6. Februar aufzeigt hat:  Das mehr schlecht als recht. Als ehemaliger Immobilienbesitzer, ich habe bis vor wenigen Jahren drei Wohnungen im nun schwer zerstörten Hatay besessen, weiß ich, wovon ich rede. Im Jahr 2009 habe ich ein Buch mit dem Schwerpunkt "Erdbebenrisiken in Antakya und Hatay" geschrieben. Der Titel des Buches: „30 Sekunden“. Die Zeit, die ein Erdbeben manchmal nur braucht, um die Welt die man kennt für immer zu verändern. Die Resonanz auf die Veröffentlichung in türkischer Sprache war damals zugegebenermaßen ernüchternd – niemand interessierte sich in der Region für Erdbeben. Weder der Bürgermeister noch die vielen Besitzer (schwarz gebauter) Immobilien, bei denen ich mit dem Erdbebenbuch „hausieren“ ging, waren für das Thema empfänglich. Die Menschen vor Ort verdrängten bis zuletzt, dass Sie in einem der weltweit anfälligsten Gebiete für Erdbeben leben. Dabei wiederholt sich die Geschichte immer und immer wieder: Bereits zu römischen Zeiten ging Antiochia (heute Antakya), einst die zweitgrößte Stadt im römischen Reich, in Folge schwerer Beben unter.

Der gesamten Region bis Gaziantep droht im Jahr 2023 zwar nicht der Untergang, aber eine massive Flüchtlingswelle. Man wird in einem Jahr die Schäden der Beben auf einer solchen Fläche nicht beseitigen und wieder neu aufbauen können. Neben den Flüchtlingen des Bürgerkrieges müssen nun auch die Einheimischen, die durch die Naturkatastrophe obdachlos geworden sind, in Flüchtlingszelten ausharren.

Die Türkei steht vor ungeahnten Herausforderungen, dass nun auch eine politische Krise folgt, steht außer Zweifel. Ganz viel Schuld hierfür trägt die Regierung selbst – es ging in den letzten Jahren und Jahrzehnten allein um die Gewinnmaximierung. Es wurde gebaut, gebaut, gebaut - der Erdbebenschutz und somit die Bevölkerung spielte, wenn überhaupt, nur eine Nebenrolle. Man darf gespannt sein, was bei den Wahlen, die am 18. Juni stattfinden sollen, herauskommt. Sollten diese dann überhaupt, und wenn ja als freie Wahlen, stattfinden.

  Karsten Brandt
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